kreativ. kommunikativ. kompetent Frauke Brauns, Chefredakteurin und Sprachberaterin


Redaktionsarbeiten aller Art und Ghostwriting Wie ich wurde was ich bin Sie erzählen, ich schreibe für Sie. Lernen Sie mich kennen Das sagen Auftraggeber über mich anrufen, faxen oder mailen da habe ich meine Finger mit drin

Reportage - Portrait

Nach 19 Jahren auf der Straße will Jürgen Schneider im Jahr 2000 sesshaft werden. Im Konfirmandenunterricht und bei anderen kirchlichen Veranstaltungen erzählt er aus seinem Leben

Kein ganz normaler Wohnungsloser

Von Frauke Brauns

Bielefeld - "Mit 18 habe ich meine Lehre hingeschmissen und bin aus dem Heim abgehauen", erzählt Jürgen Schneider und fügt nachdenklich an, "für mich wäre es besser gewesen, dann noch nicht volljährig zu sein." Er fragt, ob ein Mensch wirklich mit 18 Jahren so weitreichende Entscheidungen für sein Leben treffen sollte, wie er es damals gemacht hat. Er ist sich heute sicher, dass für ihn die Altersgrenze von 21 Jahren für die Volljährigkeit sinnvoller gewesen wäre. "Dann hätte ich eine andere Lehre machen müssen, und wahrscheinlich ein anderes Leben geführt."

Jürgen Schneider ist heute 37 Jahre alt und lebt seit 19 Jahren auf der Straße. Und er erzählt offen zum Beispiel im Konfirmandenunterricht oder bei anderen kirchlichen Veranstaltungen, wie es dazu gekommen ist: Mit dreizehneinhalb Jahren - kurz vor der Strafmündigkeit - kommt Schneider ins Heim. Geboren ist er 1963 in Hilden bei Düsseldorf, und er wächst in Solingen mit seinen sechs Geschwistern auf. Sein Vater ist Gesenkschmied und seine Mutter Hausfrau. Die Familie lebt in einer sozialschwachen Siedlung, wie Schneider berichtet. Schon früh bricht er Autos auf und stiehlt. "Ich war immer allein", betont er. Zu einer Gang habe er nie gehören wollen.

"Ich habe verstanden, dass ich mir mein Leben verbaue"

Seine Eltern wenden sich an das Jugendamt, an die freiwillige Familienfürsorge, weil sie nicht mehr mit ihm zurecht kommen. Die weisen ihn in ein Heim in Düsseldorf ein. "Damals hasste ich meine Mutter. Aber später habe ich gesehen, dass sie mit meinen Geschwistern und mir überfordert war", räumt er ein. Zunächst stiehlt Schneider noch weiter, als er im Heim ist. Aber die Betreuer machen ihm klar, dass es für ihn ungünstig ist, wenn er so weiter macht. "Ich habe verstanden, dass ich mir mein Leben verbaue", erklärt er. Bis zum achten Schuljahr besucht er die heimeigene Schule und entscheidet sich dann, nicht ins Neunte zu gehen, sondern ein berufsvorbereitendes Jahr zu absolvieren. In den Werkstätten des Heimes, einem Haus der Graf-von-der-Recke-Stiftung, kann er dies in den Bereichen Holz, Metall, Farbe machen. So entsteht sein Wunsch, Dreher zu werden. Diese Lehre lässt sich jedoch in den zum Heim gehörenden Werkstätten nicht verwirklichen.

Die Betreuer drängen Jürgen Schneider, einen anderen Beruf zu lernen. Und so beginnt er eine Bäckerlehre, die ihm aber nach dem ersten Lehrjahr keine Freude mehr bereitet. "Mit 18 habe ich die Lehre hingeschmissen und bin abgehauen." Eine Tat, die er heute offensichtlich bereut. Er geht zurück zu seiner Familie. Aber dort hält er es nicht lange aus, packt seine Sachen und geht "einfach drauf los."

"Ich habe mir Städte angeschaut und habe rumgehangen", sagt Jürgen Schneider. Er beginnt mit Düsseldorf, Hannover und Hamburg. Später zieht er durch den Süden der Republik, nach dem Mauerfall auch durch den Osten. Wenn Schneider kein Geld mehr hat, besorgt er sich auf dem Arbeitsamt einen Job. Er schränkt sich ein, kommt über die Runden. In Wohnheime für Wohnungslose geht er nicht gern. Dort ist ihm das Leben zu eng.

Es wäre richtig, wenn die Bewohner arbeiten müssten

Jürgen Schneider berichtet, dass man in diesen Häusern einen Raum mit drei oder vier anderen teilt. Nur wer länger dort bleibt, bekommt ein Einzelzimmer. Die Möglichkeit, sich zurück zu ziehen, allein zu bleiben und den Kontakt nur zu suchen, wenn man ihn braucht, aber sei wichtig für Wohnungslose. "Man hat den Kopf voller Sorgen und der Nebenmann auch", erklärt er. Aber darüber redet man nicht mit einander. "Wo ich keinen kenne und kein Vertrauen habe, rede ich nicht." Verständlicher Weise. Unter den Sozialarbeitern hat der Wohnungslose nur wenige gefunden, "die einfühlsam genug sind, um mit den Leuten umzugehen." Auch findet er in den Wohnheimen keine Hilfe, die ihn auf ein selbstständiges Leben vorbereiten würde. Jürgen Schneider fände es richtig, wenn die Bewohner arbeiten müssten. Er meint damit nicht irgendein Beschäftigungsprojekt wie Taschenlampen zusammen bauen. Er denkt an Haushaltspflichten wie Wäsche waschen oder Essen kochen. Beides wird für die Bewohner erledigt.

"Wer anders leben möchte, muss an die richtigen Leute geraten", sagt Schneider und betont, dass er schließlich Glück gehabt hat. 1983 kehrt er den Wohnhäusern den Rücken und klopft bei Pfarrhäusern und Werkstätten an. Dort fragt er nicht nur nach einer Unterkunft. Er macht immer klar, dass er dafür arbeiten will. Mit einem Augenzwinkern erklärt er, dass in Pfarrhäusern eigentlich immer Raum wäre für Menschen wie ihn. Aber er versteht, "man kann nicht alle in sein Privathaus einladen." In den Gemeindehäusern jedoch sollte immer ein Schlafplatz sein, fordert er.

Und so gerät Jürgen Schneider an Privatpersonen, die ihn aufnehmen, kommt so in christliche Häuser. Dort kann er duschen, sich ausruhen und weiter ziehen, wenn es ihm nicht mehr gefällt. Die erste, die ihm ihr Haus öffnet, ist eine Frau in Ratingen. Als er sie wieder verlässt, gibt sie ihm Tipps, bei wem er in anderen Städten unterkommen kann. Mit der Zeit erhält Jürgen Schneider mehr und mehr Adressen und baut sich eine Art Netzwerk von Anlaufstationen auf, gewinnt Freunde in ganz Deutschland. Das passt zu seiner Lebensphilosophie. Er sagt, "Wenn ich zu Geld kommen will, dann bekomme ich Geld." Dabei denkt er an die vielen Möglichkeiten, die er bei Behörden hat. Gleichzeitig betont er, "Niemand braucht mir zu helfen. Aber wenn jemand hilft, dann menschengerecht." Er möchte "als Mensch behandelt werden" und betont, "die Kälte der Menschen macht mir viel aus." Und Jürgen Schneider ist immer bereit, etwas zurück zu geben.

Arbeit mit Jugendlichen fasziniert ihn

Deshalb nimmt ein Pfarrer seinen Gast mit in den Konfirmandenunterricht, und Jürgen Schneider erzählt den Jugendlichen aus seinem Leben. Er stößt auf Neugier und Interesse. Dies Gespräch macht ihm Freude und bald bietet er seinen Gastgebern an, in der Jugendarbeit zu helfen. 1995 nimmt er dann auf dem Kirchentag in Hamburg am Forum Lebensformen teil. Heute können ihn Interessenten sogar anfordern, damit er im Konfirmandenunterricht aus seinem Leben berichtet, an einer Konfirmandenfreizeit teilnimmt, im Gottesdienst mitwirkt oder abends im Gemeindehaus mit Erwachsenen diskutiert über Wohnungslosigkeit.

Die Arbeit mit den Jugendlichen fasziniert ihn, fordert ihn heraus. Und er möchte auf jeden Fall auch in Zukunft ehrenamtlich mit Jugendlichen zu tun haben. Er stellt sich vor, noch in diesem Jahr sesshaft zu werden und einen Halbtagsjob anzunehmen. Dann bliebe ihm genug Zeit für die kirchliche Jugendarbeit.

Kontakt: Jürgen Schneider, Postfach 112, 58314 Schwelm

Unsere Kirche, Evangelische Wochenzeitung für Westfalen und Lippe, 15/2000

nach oben | zurück | weiter | zurück zur Kategorie "Artikel" | zurück zur Startseite

anklichen und eine Mail an kreativ. kommunikativ. kompetent. schicken. Spam-Schutz: eMail-Adresse bitte manuell anpassen.

İFrauke Brauns
Redaktionsbüro Drei K